Eine tarifvertragliche Vereinbarung zur eingeschränkten Übertragbarkeit von Urlaubsansprüchen in das Folgejahr ist unionsrechtlich zulässig – Vorabentscheidung des EuGH, Urteil v. 22.11.2011 – C-214/10 (KHS AG ./. Schulte, Winfried).
Arbeitnehmer konnte Urlaub wegen Krankheit nicht nehmen
In dem der Entscheidung des EuGH zugrunde liegenden Sachverhalt aus dem Jahre 2008 hat ein ehemaliger Beschäftigter seinen Arbeitgeber auf Abgeltung des wegen der Folgen eines Infarkts nicht genommenen Jahresurlaubs für die Jahre 2006 bis 2008 in Anspruch genommen. Laut seines Arbeitsvertrages stand ihm ein jährlicher Urlaubsanspruch von 30 Tagen zu.
Auf den Arbeitsvertrag des Beschäftigten findet ein Tarifvertrag Anwendung, in welchem geregelt ist, dass nicht genommener Urlaub drei Monate nach Ablauf des Kalenderjahres verfällt. Weiter ist geregelt, dass der Urlaubsanspruch 12 Monate nach dieser 3-Monatsfrist erlischt, wenn der Urlaub aus Krankheitsgründen nicht genommen werden konnte. Hieraus ergibt sich bei Krankheit eine 15-monatige Frist zur Inanspruchnahme des Urlaubs. Die Frist berechnet sich ab dem Ablauf des Kalenderjahrs, in welchem der Urlaubsanspruch entstanden ist.
Erfolgreiche Klage vor dem Arbeitsgericht
Der Kläger begehrte von seinem ehemaligen Arbeitgeber die Abgeltung des nicht genommenen Jahresurlaubs. Das Arbeitsgericht Dortmund gab der Klage des ehemaligen Beschäftigten im Umfang des unionsrechtlich gewährten Mindesturlaubs von 20 Tagen zuzüglich des nach deutschem Recht bestehenden Schwerbehindertenanspruchs von 5 Urlaubstagen statt. Der Arbeitgeber wurde somit erstinstanzlich zur Auszahlung des gesammelten Urlaubsanspruchs aus dem Jahre 2006 bis 2008 verurteilt. In der Berufung wies das Landesarbeitsgericht Hamm darauf hin, dass der Urlaubsanspruch aus dem Jahre 2006 auf Grundlage der oben genannten tarifvertraglichen Regelungen erloschen sei. Die tariflichen Bestimmungen könnten jedoch gegen Art. 7 Abs.1 der Richtlinie 2003/88/EG verstoßen, weshalb das Gericht die Frage dem EuGH vorlegte.
Bezahlter Urlaub als wesentlicher Grundsatz des europäischen Sozialrechts
In seiner Urteilsbegründung weist der EuGH zunächst darauf hin, dass der Anspruch jedes Arbeitnehmers auf bezahlten Jahresurlaub als ein besonders bedeutsamer Grundsatz des Sozialrechts der Europäischen Union anzusehen ist. Von diesem Grundsatz dürfe nicht abgewichen werden. Er dürfe zudem von den zuständigen nationalen Stellen nur in den Grenzen umgesetzt werden, die in der Richtlinie 93/104/EG über bestimmte Aspekte der Arbeitsgestaltung (durch die Richtlinie 2003/88/EG kodifiziert) ausdrücklich gezogen sind.
Erholungszweck des Urlaubs nach 3-jähriger Krankheit nicht mehr gegeben
Eine Einschränkung der Abgeltung des Urlaubsanspruchs ist grundsätzlich möglich. Der Arbeitnehmer, dessen Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erloschen ist, muss jedoch tatsächlich die Möglichkeit gehabt haben, den ihm mit der Richtlinie verliehenen Anspruch auszuüben. Wenn ein Arbeitnehmer über den Zeitraum von 3 Jahren „krank geschrieben“ ist, hat er keine Möglichkeit, den bezahlten Jahresurlaub zu nehmen. Dies würde dazu führen, dass ein Arbeitnehmer seine Urlaubsansprüche in dem mehrere Jahre andauernden Zeitraum der Arbeitsunfähigkeit sammeln könnte. Dies wiederum ist nicht mehr vom Zweck des Anspruchs auf bezahlten Jahresurlaub gedeckt. Dieser besteht nämlich darin, es dem Arbeitnehmer zu ermöglichen, sich zum einen von der Ausübung der ihm nach seinem Arbeitsvertrag obliegenden Aufgaben zu erholen und zum anderen über einen Zeitraum für Entspannung und Freizeit zu verfügen. Nach einer dreijährigen Krankheit wird der Erholungszweck durch die Nachholung des Urlaubes jedoch nicht mehr erreicht. Deshalb kann der Übertrag zeitlich eingeschränkt werden.
Regelungen in Tarifverträgen die Urlaubsansprüche, welche aufgrund von Krankheit nicht genommen werden, dadurch einschränken, dass der Übertragungszeitraum des Urlaubsanspruchs auf 15 Monate begrenzt wird, sind wirksam. Nach Ablauf des Übertragungsraums ist der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub erloschen.
Konkretisierung der „Schultz-Hoff-Entscheidung“
Mit dieser Entscheidung hat der EuGH seine Entscheidung vom 20.01.2009 (Schultz-Hoff, C-350/06 und C-520/06) konkretisiert. Hier hatte der EuGH entschieden, dass das Erlöschen des Urlaubs- und Urlaubsabgeltungsanspruchs bei Arbeitsunfähigkeit bis zum Ende des Übertragungszeitraums nach § 7 Abs. 3 Bundesurlaubsgesetz (BUrlG) mit der Europäischen Arbeitszeitrichtlinie unvereinbar ist, wenn der Arbeitnehmer wegen Arbeitsunfähigkeit nicht die tatsächliche Möglichkeit hatte, den Urlaub in Anspruch zu nehmen. § 7 Abs. 3 BUrlG bestimmt, dass Urlaub im laufenden Kalenderjahr genommen werden muss. Eine Übertragung aus dringenden betrieblichen als auch persönlichen Gründen kann nur innerhalb der ersten drei Monate des Folgejahres erfolgen. Dies sei von dem Wortlaut der Richtlinie nicht mehr gedeckt. Der Anspruch auf bezahlten Jahresurlaub stehe jedem Arbeitnehmer unabhängig von seinem Gesundheitszustand zu, so dass bei Beendigung des Arbeitsverhältnisses ein Anspruch auf finanzielle Vergütung nach Art. 7 Abs. 2 der Richtlinie 2003/88/EG bestehe (vgl. hierzu auch den Beitrag „Übertragung von Urlaubsansprüchen auf Folgejahre“).
Bedeutung für die Praxis
Mit seinem aktuellen Urteil hat der EuGH entschieden, dass der in der „Schultz-Hoff-Entscheidung“ aufgestellte Grundsatz durch nationale Regelungen einschränkbar ist, wenn der Zweck des Urlaubs tatsächlich nicht mehr erreicht werden kann. Falls der Anspruch des Arbeitsnehmers auf Gewährung oder Abgeltung von Urlaub aufgrund einer tarifvertraglichen Regelung erloschen ist, sollte im Einzelfall geprüft werden, ob diese Regelung den europarechtlichen Anforderungen entspricht.
Bestehende tarifvertragliche Einigungen zwischen Arbeitgeberverbänden und Gewerkschaften sollten auf die neue Rechtssprechung überprüft und gegebenenfalls angepasst werden. Der Übertragungszeitraum muss die Dauer des Bezugszeitraums deutlich überschreiten. Die Grenze von 15 Monaten Übertragungszeit sollte nicht unterschritten werden.
Zu der Frage, ob auch arbeitsvertragliche Regelungen den Übertragungszeitraum wirksam einschränken können, hat der EuGH keine Stellung bezogen. Es ist allerdings davon auszugehen, dass dies in Deutschland aufgrund des Abdingungsverbots in § 13 BUrlG nicht möglich ist. Die Aufnahme einer entsprechenden Bestimmung im Arbeitsvertrag ist aber zumindest unschädlich und kann aus Arbeitgebersicht dennoch sinnvoll sein.
Sollten Sie Fragen zu Urlaubs- oder Urlaubsabgeltungsansprüchen haben oder Bestimmungen zur Übertragung von Urlaubsansprüchen bei Ihrem Unternehmen implementieren wollen, unterstützen wir Sie gerne. Rufen Sie einfach an oder schreiben uns eine E-Mail.
Tanja Adrians, Rechtsreferendarin am OLG Celle und Jan Zülch, Rechtsanwalt für betriebliche Altersversorgung und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Hamburg / Lüneburg