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Schwerbehinderte Arbeitnehmer:innen* genießen nach einer Betriebszugehörigkeit von sechs Monaten besonderen Kündigungsschutz. Zwar sind sie nicht unkündbar. Arbeitgeber haben jedoch bei der Kündigung von Arbeitsverhältnissen mit schwerbehinderten Arbeitnehmern einige Besonderheiten zu beachten. In diesem Beitrag soll ein Überblick darüber gegeben werden, was bei der Kündigung von schwerbehinderten Arbeitnehmern zu beachten ist bzw. in welchen Fällen die Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers unwirksam oder nichtig ist. Darüber hinaus wird in diesem Beitrag erläutert, was der schwerbehinderte Arbeitnehmer tun kann bzw. muss, wenn er sich gegen eine Kündigung wehren möchte.

Schwerbehinderteneigenschaft

Gemäß § 168 SGB IX bedarf die Kündigung des Arbeitsverhältnisses eines schwerbehinderten Menschen durch den Arbeitgeber der vorherigen Zustimmung des Integrationsamtes. Gemäß § 2 Abs. 2 SGB IX sind Menschen dann schwerbehindert, wenn bei Ihnen ein Grad der Behinderung (GdB) von wenigstens 50 vorliegt und sie ihren Wohnsitz, ihren gewöhnlichen Aufenthalt oder ihre Beschäftigung auf einem Arbeitsplatz in Deutschland haben. Der Grad der Behinderung wird gemäß § 152 SGB IX auf Antrag des behinderten Menschen durch das zuständige Versorgungsamt festgestellt.

Der Sonderkündigungsschutz kann jedoch auch Anwendung finden, wenn ein Anerkennungsbescheid des Versorgungsamtes nicht vorliegt – nämlich dann, wenn die Schwerbehinderteneigenschaft offenkundig ist. Das ist der Fall, wenn für den Arbeitgeber ohne weiteres erkennbar ist, dass der Arbeitnehmer schwerbehindert ist. Darüber hinaus haben Arbeitnehmer den besonderen Kündigungsschutz, wenn sie rechtzeitig einen (vollständigen) Antrag auf Anerkennung ihrer Schwerbehinderung bei beim Versorgungsamt gestellt haben und der Antrag noch nicht beschieden wurde. Rechtzeitig ist der Antrag, wenn bei Zugang der Kündigung die dem Versorgungsamt für die Feststellung vom Gesetzgeber auferlegte Frist abgelaufen ist. Die vom Versorgungsamt zu beachtende Frist beträgt drei Wochen bzw. sieben Wochen, wenn für die Feststellung der Schwerbehinderung ein medizinisches Gutachten erforderlich ist (§ 152 Abs. 1 Satz 3 SGB IX in Verbindung mit § 14 Abs. 2 Satz 2 und 3 SGB IX, § 17 Abs. 1 Satz 1 und Abs. 2 Satz 1 SGB IX).

Gleichgestellte

Der besondere Kündigungsschutz gemäß § 168 SGB IX gilt auch für gleichgestellte behinderte Menschen. Eine Gleichstellung kann ein Arbeitnehmer erhalten, wenn sein GdB bei 30 oder 40 liegt und er infolge seiner Behinderung ohne die Gleichstellung einen geeigneten Arbeitsplatz im Sinne von 156 SGB IX nicht erlangen oder nicht behalten kann. Der Antrag auf Gleichstellung ist bei der zuständigen Agentur für Arbeit zu stellen. Der Sonderkündigungsschutz findet Anwendung, wenn bei Kündigungszugang bereits ein positiver Bescheid der Agentur für Arbeit vorliegt. Der Sonderkündigungsschutz findet auch dann Anwendung, wenn bei Zugang der Kündigung kein positiver Bescheid der Agentur für Arbeit vorliegt, der Arbeitnehmer aber mindestens drei Wochen vor Zugang der Kündigung den Antrag auf Gleichstellung bei der Agentur für Arbeit gestellt hat und über den Antrag noch nicht entschieden wurde.

Übersicht zu Fällen, in den Sonderkündigungsschutz besteht

Zusammenfassend sind nachstehend alle Fallkonstellationen aufgeführt, in denen der besondere Kündigungsschutz besteht.

  • Die Schwerbehinderung ist im Zeitpunkt der Kündigung offensichtlich.
  • Zum Zeitpunkt der Kündigung liegt ein Feststellungsbescheid über die Schwerbehinderung des Versorgungsamtes vor (GdB 50).
  • Der Arbeitnehmer hat sieben Wochen vor Kündigungszugang einen Antrag auf Feststellung seiner Schwerbehinderung gestellt. Über den Antrag wurde jedoch noch nicht entschieden.
  • Der Arbeitnehmer hat drei Wochen vor Kündigungszugang einen Antrag auf Feststellung seiner Schwerbehinderung gestellt. Für die Bescheidung des Antrags ist ein Sachverständigengutachten nicht erforderlich. Über den Antrag wurde noch nicht entschieden.
  • Es liegt im Zeitpunkt der Kündigung ein Gleichstellungsbescheid der Agentur für Arbeit vor.
  • Der Arbeitnehmer hat einen GdB von 30 oder 40, er hat drei Wochen vor Kündigungszugang bei der Agentur für Arbeit einen Antrag auf Gleichstellung gestellt, über den Antrag wurde jedoch noch nicht entschieden.

Ausnahmen von der Zustimmungsbedürftigkeit

Keiner Zustimmung des Integrationsamtes bedarf es in folgenden Fällen:

  • Das Arbeitsverhältnis besteht bei Zugang der Kündigungserklärung noch nicht länger als sechs Monate (§ 173 Abs. 1 Nr. 1 SGB IX).
  • Der Arbeitnehmer hat sein 58. Lebensjahr bereits vollendet. Er hat einen Anspruch auf eine Abfindung, Entschädigung oder ähnliche Leistung aufgrund eines Sozialplans und der Arbeitgeber hat ihm die Kündigungsabsicht rechtzeitig mitgeteilt. Darüber hinaus hat der Arbeitnehmer der beabsichtigten Kündigung bis zu deren Ausspruch nicht widersprochen (§ 173 Abs. 1 Satz 1 Nr. 3a Satz 2 SGB IX).
  • Die Kündigung wurde aus Witterungsgründen vorgenommen und die Wiedereinstellung des Schwerbehinderten bei Wiederaufnahme der Arbeit ist gewährleistet (§ 173 Abs. 2 SGB IX).

Interessenabwägung durch das Integrationsamt

Nach Erhalt eines Antrags auf Erteilung der Zustimmung zur Kündigung prüft das Integrationsamt nicht vollumfänglich, ob die beabsichtigte Kündigung sozial gerechtfertigt ist bzw. ein wichtiger Grund vorliegt. Diese Entscheidung bleibt vielmehr den Arbeitsgerichten vorbehalten. Das Integrationsamt nimmt lediglich eine Interessenabwägung vor. Es wägt ab zwischen dem Interesse des Arbeitgebers, den Betrieb nach primär wirtschaftlichen Gesichtspunkten zu führen, und dem Interesse des schwerbehinderten Arbeitnehmers, seinen Arbeitsplatz zu erhalten.

Frist zum Ausspruch der Kündigung nach Zustimmungserteilung

Erteilt das Integrationsamt die Zustimmung zur ordentlichen Kündigung, kann der Arbeitgeber gemäß § 171 Abs. 3 SGB IX das Arbeitsverhältnis nur innerhalb eines Monats kündigen. Die Frist für die ordentliche Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers beträgt gemäß §169 SGB IX mindestens vier Wochen – unabhängig davon, ob ein anwendbarer Tarifvertrag eine kürzere Kündigungsfrist vorsieht.

Einen Antrag auf Zustimmung zu einer außerordentlichen Kündigung kann der Arbeitgeber gemäß § 174 Abs. 2 SGB IX nur innerhalb von zwei Wochen stellen, nachdem er von den für die Kündigung maßgebenden Tatsachen Kenntnis erlangt hat. Für die Kenntniserlangung gelten die Grundsätze des § 626 Abs. 2 Satz 2 BGB. Das Integrationsamt hat die Entscheidung, ob die Zustimmung erteilt wird, innerhalb von zwei Wochen zu treffen, andernfalls gilt die Zustimmung als erteilt (Zustimmungsfiktion). Die Einhaltung der Frist ist allein vom Integrationsamt bzw. im Falle der Anfechtung der Entscheidung von den Verwaltungsgerichten zu prüfen (BAG, Urteil vom 11.06.2020 – 2 AZR 442/19; BAG, Urteil vom 22.07.20212 AZR 193/21).

Die Arbeitsgerichte haben jedoch zu prüfen, ob § 174 Abs. 5 SGB IX eingehalten wurde. Gemäß § 174 Abs. 5 SGB IX kann die Kündigung auch noch nach Ablauf der 2-Wochen-Frist des § 626 Abs. 2 BGB ausgesprochen werden, sofern die Kündigung unverzüglich nach Erteilung der Zustimmung erklärt wird. „Unverzüglich“ bedeutet gemäß der hier anzuwendenden Legaldefinition des § 121 Abs. 1 BGB „ohne schuldhaftes Zögern“. Maßgeblich sind die Umstände des Einzelfalls. Mit Urteil vom 13.02.2014 hat das LAG Rheinland-Pfalz entschieden, dass die Zustellung der außerordentlichen Kündigung sechs Kalendertage bzw. vier Arbeitstage nach Eingang des Bescheids des Integrationsamt beim Arbeitgeber nicht mehr unverzüglich ist (LAG Rheinland-Pfalz, Urteil vom 13.02.2014 – 5 SA 262/13).

Welche Folgen hat es, wenn ohne Zustimmung des Integrationsamts gekündigt wurde?

Eine Kündigung des Arbeitsverhältnisses mit einem schwerbehinderten Menschen oder einem solchen nach § 2 Abs. 3 SGB IX Gleichgestellten ohne die nach § 168 IX SGB IX erforderliche Zustimmung des Integrationsamts ist gemäß § 134 BGB nichtig. Hierauf kann sich der Arbeitnehmer jedoch gemäß § 242 BGB dann nicht berufen, wenn der Arbeitgeber zum Zeitpunkt der Kündigung keine Kenntnis von der Schwerbehinderung bzw. Gleichstellung des Arbeitnehmers bzw. einer entsprechenden Beantragung hatte, keine offensichtliche Schwerbehinderung vorlag und der Arbeitnehmer dem Arbeitgeber seine festgestellte oder zumindest beantragte Schwerbehinderteneigenschaft bzw. seine schon erfolgte oder beantragte Gleichstellung nicht innerhalb von drei Wochen ab Kündigungszugang mitgeteilt hat.

Beteiligung der Schwerbehindertenvertretung

Sofern es im Betrieb eine Schwerbehindertenvertretung gibt oder möglicherweise eine Schwerbehindertenvertretung eines anderen Betriebs des Unternehmens ersatzweise zuständig ist, ist zu beachten, dass die Schwerbehindertenvertretung gemäß § 178 Abs. 2 SGB IX unverzüglich und umfassend zu unterrichten und vor Ausspruch der Kündigung anzuhören ist. Die Anhörung hat gleichzeitig mit oder vor der Betriebsratsanhörung zu erfolgen.

Was muss der schwerbehinderte Arbeitnehmer bei Erhalt einer Kündigung beachten

  • Arbeitnehmern mit Sonderkündigungsschutz gemäß § 168 SGB IX wird vom Integrationsamt die Erteilung der Zustimmung zur Kündigung bekannt gegeben. Hierdurch erhält der Arbeitnehmer die Möglichkeit, Widerspruch gegen den Bescheid einzulegen. Die Widerspruchsfrist beträgt einen Monat ab Bekanntgabe. Sofern der Widerspruch durch den Widerspruchsausschuss des Integrationsamtes zurückgewiesen wird, hat der Arbeitnehmer die Möglichkeit, Anfechtungsklage vor dem Sozialgericht zu erheben.
  • Hat der Arbeitgeber einem schwerbehinderten Arbeitnehmer in Unkenntnis von dessen Schwerbehinderung gekündigt, ist der Arbeitnehmer verpflichtet, den Arbeitgeber innerhalb von drei Wochen ab Zugang der Kündigung über seine Schwerbehinderteneigenschaft, eine Gleichstellung oder ein eingeleitetes Antragsverfahren in Kenntnis zu setzen. Tut er es nicht, oder nicht rechtzeitig, ist der besondere Kündigungsschutz wegen Zeitablaufs grundsätzlich verwirkt.
  • Schwerbehinderte Arbeitnehmer, die sich gegen die Kündigung des Arbeitsverhältnisses wehren möchten, müssen gemäß § 4 Satz 1 KSchG innerhalb von drei Wochen nach Zugang der Kündigung Kündigungsschutzklage beim Arbeitsgericht erheben. Sofern dem Arbeitnehmer erst nach Zustellung der Kündigung der Bescheid des Integrationsamts bekannt gegeben wird, beginnt die Dreiwochenfrist erst mit Bekanntgabe der Entscheidung des Integrationsamts zu laufen (§ 4 Satz 4 KSchG).

Beratung für Arbeitgeber und Arbeitnehmer

Haben Sie Fragen zur Kündigung eines schwerbehinderten Arbeitnehmers oder eines Gleichgestellten? Dann melden Sie sich gerne telefonisch (040 371577) oder per E-Mail. Wir beraten und vertreten im Bereich Kündigungsschutzrecht sowohl Arbeitgeber als auch Arbeitnehmer.

* Selbstverständlich gelten die Ausführungen in diesem Beitrag in gleicher Weise für Arbeitnehmerinnen, auch wenn im Folgenden der Begriff Arbeitnehmer verwendet wird. Aus Gründen der besseren Lesbarkeit wurde auf geschlechtsspezifische Doppelnennungen verzichtet.

Jan Zülch, Rechtsanwalt und Fachanwalt für Arbeitsrecht, Hamburg, Lüneburg

Mit Urteil vom 07.11.2012 hat das Arbeitsgericht Mönchengladbach die Kündigungsschutzklage eines seit dem Jahr 1987 als Arbeiter im Bereich Straßenmanagement der Stadt Mönchengladbach beschäftigten Mitarbeiters als unbegründet abgewiesen. Der klagende Arbeitnehmer hatte während der Durchführung von Bodenbelagsarbeiten seinen unmittelbaren Vorgesetzten mit folgenden Worten bedroht: „Ich hau Dir vor die Fresse, ich nehme es in Kauf nach einer Schlägerei gekündigt zu werden, der kriegt von mir eine Schönheitsoperation, wenn ich dann die Kündigung kriege, ist mir das egal“. Weiterlesen